Bei Krankheiten wie der Multiplen Sklerose dringen Zellen des Immunsystems in das Hirngewebe ein, wo sie großen Schaden anrichten. Lange Zeit war es ein Rätsel, wie diese Zellen den Blutstrom verlassen können, denn Blut- und Nervensystem sind normalerweise durch spezielle Blutgefäßwände voneinander getrennt. Dass die Immunzellen dennoch zu den Nervenzellen vordringen können, war bisher nur durch Gewebeschnitte belegt. Nun konnte ein Team von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried und der Universitätsmedizin Göttingen die Bewegungen dieser Zellen erstmals „live“ unter dem Mikroskop beobachten. Dabei kamen ganz neue Verhaltensweisen der Immunzellen ans Licht. Die Erkenntnisse tragen entscheidend zu unserem Verständnis der komplexen Krankheit bei. Unterstützt wurden die Forschungsarbeiten von der Hertie-Stiftung. Die Leitung der Studie hatte Prof. Dr. Alexander Flügel, langjähriger Mitarbeiter des MPI für Neurobiologie, heutiger Direktor der Abteilung experimentelle und klinische Immunologie und Leiter des in 2004 von der Hertie-Stiftung gegründeten Multiple-Sklerose-Instituts an der Universitätsmedizin Göttingen. Die Ergebnisse sind heute, 14. Oktober 2009, in der Online-Ausgabe der renommierten, internationalen Fachzeitschrift „NATURE“ veröffentlicht.
Identifizierung der Täter
Normalerweise besteht eine sehr effektive Trennung zwischen dem Zentralen Nervensystem, also dem Gehirn und Rückenmark, und dem Blutkreislauf. Deshalb war es lange Zeit rätselhaft, wie die Immunzellen die Blut-Hirn-Schranke durchbrechen können. Dies ist eine wichtige Frage zur Entstehung der Multiplen Sklerose. Erst in den 80iger-Jahren des letzten Jahrhunderts konnten Wissenschaftler zeigen, dass unter bestimmten Bedingungen Immunzellen, so genannte T-Zellen, Bestandteile des körpereigenen Hirngewebes erkennen und angreifen. Die Wanderung dieser Zellen von ihrem Entstehungsort bis hin zum Eindringen in das Hirngewebe und die resultierenden Schäden klärten sich durch Gewebeschnitte in den letzten Jahrzehnten immer weiter auf. Eine tatsächliche Beobachtung dieser Zellbewegungen blieb jedoch lange unmöglich.
Aggressive Zellen live beobachten
Diese Hürde nahmen nun Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie und der Universitätsmedizin Göttingen mit ihren Forscherkollegen. Sie markierten aggressive T-Zellen mit dem Grün Fluoreszierenden Protein (GFP) in Ratten. So konnten sie die Zellenbewegungen im lebenden Gewebe durch ein Zwei-Photonen-Mikroskop verfolgen. Diese gezielte Beobachtung der Zellen im Verlauf der Krankheit bescherte den Wissenschaftlern eine ganze Reihe von neuen Einblicken in das Verhalten dieser Zellen.
Die Wissenschaftler fanden heraus, dass die aggressiven T-Zellen die Grenzbarriere zwischen Blut und Nervengewebe in mehreren Schritten überwinden. Außerhalb des Nervensystems bewegten sich die markierten Zellen wie erwartet: Die meisten Zellen ließen sich vom Blutstrom treiben. Nur vereinzelt blieben Zellen für kurze Zeit an den Gefäßwänden haften, bevor sie in Richtung des Blutstroms weiterrollten oder wieder mitgerissen wurden. Erreichten die T-Zellen jedoch die Gefäße des Nervensystems, so verhielten sie sich völlig anders. Immer häufiger beobachteten die Wissenschaftler, wie sich die Zellen an den Gefäßwänden festsetzten. „Richtig spannend wurde es dann, als wir sahen, dass die Zellen kriechen. Das war ein bisher gänzlich unbekanntes Verhalten für T-Zellen“, berichtet Ingo Bartholomäus vom MPI für Neurobiologie, der Erst-Autor der NATURE-Veröffentlichung. „Kriechen“ beschreibt hier eine aktive Bewegung der Zellen, die vor allem gegen den Blutstrom verläuft. Die Forscher beobachteten, wie die T-Zellen für mehrere Minuten bis Stunden an den Gefäßwänden entlangwanderten und oder ihre Kreise zogen. Am Ende dieser Suchbewegung wurden die Zellen entweder wieder vom Blutstrom mitgerissen oder sie zwängten sich durch die Gefäßwand.
Folgenschwere Begegnungen
Hatten die Zellen die Barriere der Blut-Hirn-Schranke erfolgreich durchbrochen, setzten sie ihre Suche im Umkreis der Blutgefäße fort. So war es nur eine Frage der Zeit, bis die T-Zellen auf eine der so genannten Fresszellen stießen. Traf eine der beweglichen T-Zellen auf solch eine Fresszelle, so bildeten die beiden ein eng verbundenes Paar. Einige dieser Paare blieben für mehrere Minuten unzertrennlich. Dass T-Zellen erst mit Fresszellen in Kontakt treten müssen, um ihre Immunfunktion auszuüben, ist seit längerem bekannt. Völlig neu ist, dass Forscher erstmals solche Interaktionen direkt an der Blut-Hirn-Schranke beobachten. Und tatsächlich begannen die T-Zellen erst nach dem Kontakt mit den Fresszellen, entzündungsfördernde Botenstoffe auszuschütten und so den Angriff auf das Nervensystem einzuleiten. Als eine der Folgen durchquerten immer mehr T-Zellen die Wände der Blutgefäße. „Anscheinend ist die Aktivierung der T-Zellen an der Grenze zum Nervengewebe somit ein entscheidendes Signal für das Eindringen der Immunzellen“, folgert Prof. Dr. Alexander Flügel, der Leiter der Studie.
Vorgänge verstehen
Und noch etwas fanden die Wissenschaftler durch die „Live-Beobachtungen“ heraus: Gaben sie spezielle Antikörper ins Blut, die bereits in der MS-Therapie eingesetzt werden, so verschwanden die kriechenden Zellen. „Bisher wurde angenommen, dass diese Antikörper das Austreten der T-Zellen aus den Blutgefäßen blockieren“, so Ingo Bartholomäus. „Unsere Beobachtungen zeigen nun, dass sie bereits das Kriechen verhindern, also einen Schritt früher eingreifen als bisher angenommen.“
Die Beobachtungen der Wissenschaftler ergeben nun ein viel detaillierteres Bild von den Bewegungen und dem Eindringen der Immunzellen in das Zentrale Nervensystem. Mit diesem Wissen lässt sich auch die ständige Immunüberwachung im gesunden Gewebe besser verstehen. Doch die Ergebnisse und das neue Wissen werfen auch viele neue Fragen auf: Woran haften die Immunzellen auf den Gefäßoberflächen und wie erkennen sie eine geeignete Stelle für den Wechsel zwischen Blut- und Nervensystem? Was leitet die Zellen nach dem Durchbrechen der Blut-Hirn-Schranke? Dies sind einige der Fragen, denen die Wissenschaftler als nächstes auf den Grund gehen wollen. Das langfristige Ziel ist es, neue Therapien und Medikamente für Krankheiten wie der Multiplen Sklerose zu entwickeln.
HINTERGRUNDINFORMATIONEN
Das Gehirn und das Rückenmark überwachen und steuern die Funktionen aller Körperteile und regeln die Bewegungen, die Sinne und das Verhalten des Organismus. Der Schutz des Gehirns und des Rückenmarks hat daher oberste Priorität. Schädelknochen und Wirbelsäule halten mechanische Verletzungen und äußere Einflüsse fern. Gefahren von innen, zum Beispiel im Blut zirkulierende Krankheitserreger, werden durch hoch spezialisierte Blutgefäße abgewehrt. Die Wände dieser Gefäße bilden eine Grenzbarriere, die Zellen und viele kleinere Partikel nicht passieren können – die empfindlichen Nervenzellen sind geschützt. Es gibt jedoch Ausnahmen. Bei Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose (MS) gelingt es aggressiven Zellen des Immunsystems die Barriere der Blutgefäße zu durchbrechen. Einmal in das Hirngewebe eingedrungen richten diese Zellen großen Schaden an: Sie lösen Entzündungsreaktionen aus und greifen Nervenzellen an. Das Ergebnis sind vielfältige Beeinträchtigungen, unter denen alleine in Deutschland über 120 000 MS-Patienten leiden.
Originalveröffentlichung:
Ingo Bartholomäus*, Naoto Kawakami*, Francesca Odoardi, Christian Schläger, Djordje Miljkovic, Joachim W. Ellwart, Wolfgang EF Klinkert, Cassandra Flügel-Koch, Thomas B. Issekutz, Hartmut Wekerle, Alexander Flügel [*gleichrangiger Beitrag]
Effector T cell interactions with meningeal vascular structures in nascent autoimmune CNS lesions, Nature 14. Oktober 2009
Quelle pressrelations.de