Haben Bindungslust und Beziehungsfähigkeit im digitalen Zeitalter bereits gelitten?
Beziehung sieht anders aus: Stellen Sie sich Herrn K. bei einem Event vor. Mit vollem Teller bewegt er sich strikt in Büffetnähe und schlingt die ersten Bissen hinunter, während er die vor ihm lockenden Köstlichkeiten mit den Augen nach den nächsten Happen absucht. Später sehen wir ihn im Zweiergespräch. Seinem Gegenüber schenkt er rudimentäre Aufmerksamkeit, denn sein Blick wandert herum auf der Suche nach dem nächsten Kick – Möchten Sie den sympathischen Herrn K. kennenlernen? Ist es das was Sie sich unter Kommunikation und Beziehung vorstellen?
Beziehungsfähigkeit unter dem Dach von Bits & Byts
Die Digitalisierung hat uns in einen überwältigenden Kosmos der Optionen, Chancen, Daten, Informationen und Möglichkeiten katapultiert. Das macht vor der Frage der Partnerwahl nicht halt. Die einen freuen sich über die Gleichstellung der „Ehe für alle“ und erleben es als Liberalisierung, neue Verbindlichkeit und Freude an der Lebenspartnerschaft. Gleichzeitig wachsen neue Lebensformen, in denen immer mehr Menschen ihr Heil in unverbindlich-losen Beziehungen („Offen für alles“) suchen“, meint der Berliner Gesprächsexperte und Systemische Coach Thomas Wehrs. Was ist der offenbar bezwingende Reiz solcher Verknappung und was hat dieses Phänomen gefördert?
„Wollen wir uns einmal unverbindlich verabreden?“
Der im neuen Talk unerfahrene Mensch mit analoger Lust auf das pralle Leben, auf dessen Reichtum aus nährenden Kontakten, Freundschaften und Beziehungen, kapiert nur mühsam: Müssen wir uns heute so strikt voneinander abschotten, dass Spontaneität und gesunde Neugier im Keim ersticken? Worauf reduziert sich der Mensch, wenn er feste soziale Bindungen als obsolet und lästig empfindet und sich selbst der unschätzbaren Fülle an spiegelnden, wertschätzenden Beziehungserlebnissen beraubt?
„Ist Online-Dating die Vorhölle zu promiskuitiver digitaler Beziehungs-Unverbindlichkeit?“ fragt Coach Thomas Wehrs bewusst provokant.
Ist die unvorstellbare Unendlichkeit der Optionen, mit der uns die digitale Welt dreist blendet, letztendlich eine selbstgewählte Begrenzung auf ein minimales Mensch-Sein? Zugegeben, nicht-bindende Beziehungen sind pflegeleicht: Man trennt sich per SMS oder sperrt kurzerhand die Mobile-Nummer. Keine Kosten für Scheidungen, Unterhalt, Aufteilung des Hausrats, kein Trennungsschmerz – Jeder macht seins und jeder lebt für sich, nur sich selbst verpflichtet. Das klingt cool. Wirklich? Cool ist ziemlich kühl. Ist das Leben nicht zu kurz für virtuelle Nicht-Beziehungen?
Single, Mingle oder LAT (Living-apart-together)?
Ja, was nun? Der Single reibt sich die Augen: Hat er eben noch nach Rechtfertigungen suchen müssen, warum er sein Leben allein fristet und nicht selten Restriktionen, Animositäten und Vorurteile erlebt, wird er heute als Langweiler empfunden, wenn er sich zu seiner Lebenspartnersuche (spätere Ehe nicht ausgeschlossen) bekennt.
Bindungsscheu oder bindungsunfähig zu sein war in vor-digitaler Zeit ein Makel, nahe dran am Unsozialen. Kinderlose Singles Kleinganoven gleichgestellt, als nicht gesellschaftlich konforme Pflichtverweigerer deklassiert. Heute scheint Bindungsferne die Unabhängigkeitserklärung für alle zu sein, denen es an Ernsthaftigkeit und Mut mangelt, sich dem Spagat zwischen den wunderbaren und den sperrigen Seiten von fester Beziehung zu stellen – egal welcher Dauer. Heute ist ständige Alarmbereitschaft angesagt im Drang nach Selbstoptimierung. Distanz statt Nähe, Abchecken statt Sich Einlassen. Digitale Berührungen ohne Haptik, Tiefe, Sinn, Substanz, Emotionalität = allenfalls gemeinsame Langeweile. „Kümmerlich“, meint Thomas Wehrs aus langjähriger Beratungspraxis als Coach und Organisationsentwickler.
Was vor einiger Zeit als Verhalten des „misfits“ angesehen wurde, wird heute als neue Unabhängigkeit deklariert und verklärt – Ist das der Preis, den die Digitalisierung von uns fordert – digitale Unverbindlichkeit im sozialen Miteinander? Dann ist es nur ein Mausklick zur Verkümmerung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
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